Tugend der Dankbarkeit
Ich schreibe diese Zeilen an meinem Geburtstag, den ich aufgrund einer SARS-Cov-2-Ausgehsperre mit behördlichem Segen zu Hause verbringen muss/darf. Und es trifft sich gut, an einem Tag, der zu Dankbarkeit anregt, sich mit derem Wesen näher auseinanderzusetzen. Meine aktuelle Situation und der Rückblick auf so viel Gutes in meinem Leben lassen eine hohe Empfindung von Dankbarkeit aufkommen. Das alleine ist jedoch nicht mehr als eine Befindlichkeitsfeststellung, eine adresslose Äußerung von Dankbarkeit. Diese sagt zwar etwas aus und ist wegen der Gedanken, die man sich hinsichtlich seiner Ist-Situation und seines Daseins macht, sicherlich positiv zu werten.
Auf dem Markt der Angebote für Persönlichkeitsentwicklung hat die Dankbarkeit als Baustein von psychischer Gesundheit und Lebensglück einen bedeutenden und für einige auch finanziell gewinnbringenden Stellenwert eingenommen. Durch die Brille der positiven Psychologie wird Dankbarkeit fast ausschließlich im Hinblick auf die subjektive Lebensgestaltung betrachtet. Das entspricht auch durchaus der heute stark ausgeprägten Ideologie des Individualismus, denn der Einzelne kann in dieser Sichtweise durch Dankbarkeit seine Lebensqualität erhöhen. Bücher, Coachings und Seminare dazu gibt es zuhauf.
Mit dieser Betrachtung der auf sich selbst bezogenen Dankbarkeit erschließt sich dieser Begriff jedoch keineswegs in seiner vollen Bedeutungsdimension.
„Danke, dass es dich gibt.“ Diese Aussage zählt für mich zu den schönsten im großen Themenfeld der Dankbarkeit. Wohl jeder kennt die Werbebotschaft eines Berliner Unternehmens mit dem französischen Produktnamen einer Schokolade am Satzbeginn. Der Satz weist auf den zentralen Aspekt hin, dass Dankbarkeit eines „Du“ bedarf. Ich erkenne und anerkenne, dass jemand mir Gutes erwiesen hat, „mir gut tut“ und ich antworte darauf in Wort und Tat. Dass ich das mir erwiesene Gute erkenne und es mit einer angemessenen Antwort anerkenne, ist gar nicht so einfach und bedarf einigen Nachdenkens. In der Tat tun sich manche schwer, die rechten Dankesworte oder eine angemessene Antwort des Dankes in einem Geschenk oder einer Tat zu finden. Nicht umsonst leitet sich das Wort „Dankbarkeit“ vom mittelhochdeutschen „danc“ her, das die Bedeutungsinhalte „denken“ „Gedanke“ „gedenken“ aufweist.
Es lässt wohl niemanden unberührt, wenn einem dieser Satz „Danke, dass es dich gibt“ gesagt wird. Ja, in der Dankbarkeit liegt eine Kraft, die nur zur Entfaltung gebracht werden kann, wenn sie auf ein Du gerichtet ist. Stellen wir uns das Bild einer glücklichen Mutter vor, die von ihrem Kind mit einem liebevollen Danke das erste selbst gebastelte Muttertagsgeschenk überreicht bekommt. Dieses Beispiel zeigt den Begriff der Dankbarkeit in seiner ganzen Schönheit, weil diese kindliche Dankbarkeit frei von jeglichem Erwartungsdruck und jeglicher Dankesschuld ist. Das Kind sagt Danke, weil es das an ihm erwiesene Gute in der fürsorglichen Liebe der Mutter spürt. Es ist die Antwort des Kindes auf die mütterliche Liebe, weil es die Mutter durch und durch gut empfindet.
Den anderen, dem ich dankbar bin, lieben und annehmen, weil man ihn durch und durch gut empfindet. Das bildet den innersten Kern der Dankbarkeit. So verstanden ist Dankbarkeit eine Lebenshaltung, eine Tugend.
Gegenüber meinem Mitmenschen, meinem Nächsten, aus der Motivation heraus handeln, dass ich ihn durch und durch als gut wahrnehme: ist das nicht die Haltung, der hohe Anspruch der Liebe? Dankbarkeit in ihrer tiefsten Dimension gründet also in einer Haltung der Liebe.
Beziehung, Liebe, Erkennen und Anerkennen einer erwiesenen Wohltat, Antworten in Wort und Tat: nicht nur Christen steht diese Gesinnung und dieses Handeln – diese Tugend der Dankbarkeit – offen.
Als Christ weiß ich mich jedoch darüber hinaus mit meinem ganzen Sein in die Liebe Gottes gestellt. Im Leben Jesu, in seiner Passion und in seiner Auferstehung wird das uns erwiesene Gute und die grenzenlose Liebe Gottes spürbar. Weil Gott uns durch und durch als gut sieht, weil er uns liebt und sich als Mensch zugewandt hat, kann für uns Christen die Anrede Gottes nur eine Grundhaltung der Dankbarkeit sein. Das griechische Wort „eucharistia“ bezeichnet diese dankbare Gesinnung, die sich in Wort und Tat ausdrückt. Gott kommt zu uns in der Eucharistie und er begegnet uns in jedem Menschen (Mt 25,40). Konsequenterweise ergibt sich daraus eine notwendige Haltung der Dankbarkeit in all unseren Beziehungen. Gläubige Christen sind dankbare Menschen!
Dankbarkeit ist somit eine der entscheidenden Zutaten, damit Zusammenleben im christlichen Geist gelingen kann, ob in der Familie, in Pfarrgemeinden oder in größeren sozialen Gemeinschaften. Die in der Taufe vollzogene Anbindung an Jesus Christus weist uns den Weg dazu. Oder mit den Worten des Apostels Paulus gesagt: „Dankt für alles; denn das ist der Wille Gottes für euch in Christus Jesus.“ 1 Thess (5, 18).
Martin Formanek