Begegnung mit dem Auferstandenen
Vom heutigen Evangelium berührt mich am tiefsten die Gestalt des Thomas. Vor allem seine Begegnung mit dem Auferstandenen Jesus und seine Art, wie er diese Begegnung ersehnt.
Der Apostel Thomas wird oft sehr verkürzt als der "ungläubige Thomas" tituliert. Ich bin diesem Apostel dankbar, dass er den Auferstandenen sinnenhaft selbst erfahren wollte und nicht nur vom Hörensagen anderer. Wie ist er mir doch in dieser Hinsicht sympathisch! Ich möchte den Auferstandenen auch mit meinen Sinnen erfahren und ich bin dankbar, dass ich Ihn immer wieder vor allem mit den inneren, geistigen Sinnen sehen, spüren, berühren darf. Besser noch, dass Er mich immer wieder innerlich berührt, mich Seine Liebe spüren lässt, mich ergreift. Ich denke, dass viele von uns dies zumindest an bestimmten Momenten ihres Lebens erfahren haben.
Was mich aber an Thomas noch mehr fasziniert ist, dass er uns eine wichtige Botschaft darüber erschließt, wie und woran wir den Auferstandenen Jesus erkennen können. Und dieser Aspekt wird oft übersehen, was zur Folge hat, dass nicht wenige Menschen meinen, in ihrem Leben wäre keine Begegnung mit dem Auferstandenen möglich. Ich denke an Menschen, die tiefe Verletzungen verschiedener Art mit sich tragen; Verwundungen durch leidvolle Erfahrungen, enttäuschtes Vertrauen, zerbrochene Liebe, Schicksalsschläge, die zum Teil lebenslange Spuren hinterlassen.
Die natürliche Reaktion darauf ist in der Regel, dass wir die Verletzungen möglichst rasch geheilt wissen wollen. Und wenn dies nicht möglich ist, dass wir sie wenigstens vergessen können. Bisweilen versuchen wir es mit Verdrängen, Überspielen, Wegwischen oder Schwamm drüber. Wir wollen die Wunden nicht sehen oder gar für andere sichtbar machen!
Was lehrt uns der Apostel Thomas? Woran will er den Auferstandenen erkennen? Wie will er mit Gewissheit den, der laut Auskunft der anderen Jünger erschienen ist, als den echten Jesus identifizieren? – An seinen Wundmalen. Warum nicht am Gesicht? An den Augen? An der Stimme? – Daran hätte er doch auch Jesus wieder erkennen können. Nein: Thomas will und kann ihn nur an seinen Wundmalen erkennen und als den wirklichen Jesus anerkennen. Erst, als der Auferstandene ihm die Wundmale zeigt, vermag er sein Glaubensbekenntnis auszurufen: "Mein Herr und mein Gott!"
Hier ist nicht ausreichend Zeit, dies eingehender zu vertiefen; ich lade alle ein, dies allein und mit anderen zu betrachten. Die Botschaft jedenfalls ist wichtig und sehr tröstlich. Ich möchte sie in synthetischer Weise folgendermaßen formulieren:
Jesus, der Sohn Gottes, hätte doch locker nach seiner Auferstehung die Wunden, also die Erinnerung an seinen grausamen Tod am Kreuz, verschwinden lassen können. Er hätte die Macht gehabt, sie wegzuwischen, sie mit göttlicher plastisch-chirurgischer Kunst unsichtbar zu machen. Gottes Sohn tut es nicht: Jesus nimmt sein ganzes Menschsein auch mit seinen Verletzungen und Verwundungen, mit hinein in die Auferstehung. Seine Wunden sind nicht weg, aber sie sind verklärt, d.h. sie sind erlöst und sind als verklärte Zeichen der Erlösung. Gerade seine Wundmale sind der Beweis, dass er in seiner Auferstehung alles Menschliche in die Erlösung mithineingenommen hat; dass er gerade das Leid, den Schmerz, den grausamen Tod erlöst hat.
An Christus glauben heißt demnach nicht: Alles Leid und alle Verletzungen sind weggewischt. Es heißt vielmehr: So wie die Wunden Jesu durch die Auferstehung verklärt wurden, so können unsere Wunden in der Begegnung mit dem Auferstandenen auch verklärt werden. D.h. wir können sie durch die Wunden Jesu als erlöst erfahren – wie es im 1. Petrusbrief heißt "Durch seine Wunden sind wir geheilt" (1 Petr 2,24 Jes 53,5 zitierend). Ich kann meine Verletzungen und meine Narben hineinhalten in die verklärten Wundmale Jesu und sie auf diese Weise als von Ihm bereits erlöst erfahren.
Im Übrigen zeigt sich der Auferstandene nicht nur dem Apostel Thomas mit seinen Wundmalen, sondern er erscheint immer mit den Wundmalen, auch wenn dies in den Evangelien nicht immer explizit betont wird. In der Begegnung des Auferstandenen mit den Emmausjüngern beschreibt der Evangelist Lukas, dass die Emmausjünger Jesus erkannten, als er das Brot brach.
Abgesehen davon, dass die Geste des Brotbrechens Jesu gewiss auch einen Wiedererkennungseffekt hatte, bin ich durch einen chinesischen Künstler noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam geworden, der mit dem vorher Gesagten zu tun hat. Dieser Künstler heißt Hung und hat sein Atelier in Loppiano südlich von Florenz, wo ich zwei Jahre zum Studium lebte. Hung ist ursprünglich Kalligraph und hat in einer zweiten Schaffensperiode begonnen, Kunstwerke mit Metall und Feuer zu kreieren, indem er feine Metallstäbe (seine neuen Pinsel, wie er es formuliert) mit Feuer schmilzt und zu Kunstwerken formt.
Eines seiner Kunstwerke trägt den Titel fractio panis. [Bild 1. rechts] Die fractio panis, zu Deutsch die Brotbrechung zeigt jenen Moment, an dem Jesus bei den Emmausjüngern das Brot bricht, also genau jenen Moment, an dem sie Jesus erkannten.
Im zweiten Bild [Bild 2. rechts] sehen wir die Brotbrechung aus der Perspektive der Emmausjünger: Die Hände Jesu knicken das Brot, bis es in der Mitte bricht. Wir denken dabei unweigerlich an den Moment des Brotbrechens in der Eucharistiefeier und es fällt uns vielleicht wieder neu auf, dass der Priester den Leib Christi nicht als ganzen konsumiert, sondern ihn zuerst bricht.
Das Loch in der Mitte des Kunstwerks erinnert an die Wundmale Jesu so wie das Brechen des Brotes, das wesentlich zur Messfeier gehört, an den gebrochenen Leib Christi erinnert. – So schenkt sich uns Christus der Auferstandene: als Gebrochener-Erlöster, als Verwundeter-Erlöster.
Im dritten Bild [Bild links] sehen wir nun mehr von der rechten Hand Jesu. Der Künstler zeigt auch in der Hand deutlich ein Loch, den Hinweis auf die Nagelwunde Jesu.Im persönlichen Gespräch mit Hung über sein Kunstwerk sagte er mir sinngemäß: "Könnte es nicht sein, dass die Emmausjünger Jesus beim Brotbrechen deshalb erkannten, weil sie in diesem Augenblick die Wundmale an seinen Händen sehen konnten?"
Diese Frage hat mich seither beschäftigt und je länger ich darüber nachdenke, desto einleuchtender scheint mir dieser Gedanke.
Wie auch immer: Der Auferstandene Jesus ist derselbe Jesus, der gelitten hat, gestorben ist und begraben wurde. Er nimmt sein ganzes Menschsein hinein in die Auferstehung.
Das ist die Frohe Botschaft für uns: Wir brauchen nichts in unserem Leben verdrängen, verleugnen, ignorieren oder kaschieren. Wenn wir unsere Wunden hineinhalten in jene des Auferstandenen, können sie Erlösung erfahren.
Wenn wir dies tun, werden wir dem Auferstandenen im eigenen Leben eher und intensiver begegnen und können selbst zu Zeuginnen und Zeugen für den Auferstandenen werden. Zu Zeugen wie Thomas und die anderen Apostelinnen und Apostel und aus immer festerer Überzeugung wie Thomas sprechen "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28)
Verweilen wir noch einen Augenblick bei der vierten Perspektive des Kunstwerks [Bild rechts]. Wer möchte, kann nun in der Wunde des gebrochenen Brotes seine eigenen Wunden sehen und sie mit jenen des Leibes Jesu vereinen.